Donnerstag, 20. September 2012

text /// Industrieromantik


Romantik liegt mir nicht, doch dieses Bild aus Beton und Stahl und Holz und Rauch und wilden Lichtern und den Regenwolken...
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Die Türen der S-Bahn schließen sich hinter mir. Ich zünde mir eine Kippe an und steige mühsam die Treppenstufen nach oben. Die Luft ist kühl, ich bin kühl. Kein Gefühl in mir. Nur das leise Knistern des Tabaks, der vor meiner Nase verdampft. Jeder Zug bringt mich ein Stück näher. Ein Stück näher zur Brücke über mir, ein Stück näher nach Hause. Penner liegen in der Vorhalle und schlafen. Es riecht nach Pisse und Bier, kaltem Suffschweiß und den räudigen Hunden, die sich wie Maden zwischen ihren Herren suhlen. Diese Sommernacht ist kalt, in all ihrem laternenschwarzen Glanz – in ihrer Einöde zwischen Beton und dem Leben darauf.

Ich stelle die Dose Bier, halb voll, auf den Rand des Mülleimers am Ausgang und ein kühler, frischer Wind weht mir entgegen. Spott habe ich für ihn übrig, nichts als Hohn und zynische Blicke. Die Nacht verkauft sich als Frische wie der Wolf sich im Schafspelz tarnt. Nichts an diesem Ort ist frisch, außer der Erkenntnis, dass es aus diesem Ort kein Entrinnen gibt, für das es sich zu leben lohnt. Ich laufe über die Brücke, unter mir rattern und scheppern die Güterzüge. Über mir ziehen dichte Wolken ihre Schlinge um den Abendhimmel fester, sodass sich die Lichter der Stadt in ihnen verlieren. Ich halte kurz an, lehne mich mit dem Rücken an das Geländer und blicke über das in orangerotes Licht getränkte Industriegebiet – mit all seinen Gleisen und Straßen, Lagerhallen und Kühltürmen. Industrieromantik bei Nacht, ich bin dir verfallen. Romantik liegt mir nicht, doch dieses Bild aus Beton und Stahl und Holz und Rauch und wilden Lichtern und den Regenwolken, die sich aus Osten wie schwarzer Rasierschaum über den Himmel schieben, beruhigt mich und lässt mich hoffen – alles bewegt sich, wenn auch langsam.

Die Wohnungstür schließt sich hinter mir. Ich streife mir meinen Pullover ab und schmeiße ihn zu den Schuhen in die Ecke. Es ist drückend heiß in meiner Wohnung. Ich reiße das Fenster auf und atme die kühle Luft, durch tausende Buchenblätter vor meinem Fenster gefiltert. Direkt vor mir, in der Krone der alten Buche, gurrt eine fette Taube. Ich hasse sie. Meine Wohnung stinkt nach alten Lucky Strikes und ungespültem Geschirr. Sie ist leer, hat keine Seele, denn die Seele fehlt. Niemand ist hier. Whisky, denke ich – eine Flasche steht bereit. Benommen und verkrampft setze ich mich auf mein Sofa und trinke – auf den Job, die Erwartungen, die Ratschläge, das Geld, die Zukunft, das Glück, die Freunde, die Familie, auf sie, auf dich, auf all die anderen dazwischen und auch auf die, die ich gern gehabt hätte. Ich trinke auf alles, was mir scheißegal sein kann und ist. Scheißegal sein sollte. Scheißegal sein muss. Denn heute bin ich dran. Ich und die Güterzüge in meinem Kopf, die rasen und scheppern.

Ich stelle die leere Flasche auf den laternenschwarzen Beton, der nassfahl glänzt in dieser Einöde zwischen Industrieromantik und Taubenschiss. Diese Sommernacht ist kalt und die Wolken bedecken drohend in all ihrer Fülle den Himmel, bereit Dreck und Schmerz wegzuspülen. Ich lehne mich mit dem Bauch an das Geländer und blicke über das in orangerotes Licht gehüllte Industriegebiet - mit all seinen Gleisen und Straßen, Lagerhallen und Kühltürmen. Langsam fällt meine glimmende Kippe zwischen die Gleise.

Ein Penner wacht auf, kann den Kotzreiz nicht mehr zurückhalten. Er schleppt sich, stöhnend, zwei, drei Meter zum Geländer der Brücke, um seinen Tetrapak-Wein von Penny über die Gleise ein Dutzend Meter unter ihm zu ergießen. Alles bewegt sich, wenn auch langsam, in seinem Augenwinkel. Doch noch während er würgt, schnellt ein Schatten in die Tiefe und schlägt mit einem dumpfen Schlag zwischen den Güterzügen auf. Industrieromantik – bei Nacht. Und in meinem Kopf scheppern die Güterzüge.

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