Freitag, 28. Dezember 2012

text /// Vom Sinn. Betrunken.


"Ein Zoo ist auch nur wie Fernsehen, da ist nichts echt. Ein Zoo ist der Inbegriff von menschlicher Herrschaft über die Natur."
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Und sie reden betrunken über den Sinn. Den Sinn von GEZ-Gebühren. Den Sinn von Preiserhöhungen bei der S-Bahn, obwohl bei Hitze oder Kälte reihenweise Züge ausfallen. Sie reden über den Sinn von Studiengebühren und den Sinn von Bubble Tea. "Bubble Tea macht Krebs", sagt sie und nippt an ihrem Bier. "Ich hab das bei Galileo gesehen. Das sollte verboten werden." Er nickt bedächtig und schaut auf die Anzeige der U-Bahn. "Noch drei Stationen." Sie blickt gedankenverloren in das Schwarz des Tunnels, der am Fenster neben ihnen vorbei zieht. "Weißt du was auch keinen Sinn macht?", fragt sie nach kurzem Überlegen. Er legt seine Füße auf den Sitz und nimmt ihre Hand. "Es macht keinen Sinn Tiere in Zoos zu halten, das dient einfach nur der Belustigung von Menschen, die nicht den Arsch in der Hose haben etwas zu wagen und zu reisen, sich Tiere in freier Natur anzugucken. Ein Zoo ist auch nur wie Fernsehen, da ist nichts echt. Ein Zoo ist der Inbegriff von menschlicher Herrschaft über die Natur. Wir können alles anpflanzen, anzüchten und künstlich in Gehege sperren. Aber echt ist das nicht. Ich meine so richtig echt." Er umschließt ihre Hand mit allen Finger und drückt sie an seinen Oberschenkel. Noch zwei Stationen. 

"Ich hasse es, dass so viele Menschen ohne Sinn leben. Ohne Sinn für das Einfache, das Eigene und das Wertvolle. Das Einfache wird nicht mehr wertgeschätzt. Es ist normal geworden. Alles ist normal geworden. Es gibt für die meisten Menschen nichts mehr, für das es sich zu kämpfen lohnt, weil es einmalig ist. Wir können immer alles haben, wann und wo wir wollen. Wir können jeden Tag in den Zoo gehen und uns Pandabären angucken, obwohl die fast ausgestorben sind. Wie soll man gegen das Aussterben von Pandabären kämpfen, wenn man sie sich jeden Tag ansehen kann, in Gefangenschaft, hinter Gittern und Zäunen? Macht das Sinn? So vieles macht keinen Sinn." Sie trinkt einen großzügigen Schluck, streicht mit ihrer Zunge über ihre bierfeuchten Lippen und vergräbt ihren Kopf zwischen seiner Schulter und seinem unrasierten Hals. Er neigt seinen Kopf zu ihr, streichelt ihr zärtlich mit der Hand von der Schläfe über die Wange bis zum Kinn und lächelt. Sie seufzt und vergräbt sich weiter in seinem schützenden Oberkörper, müde und zufrieden schließt sie die Augen. "Weißt du", sagt er, "ich habe verdammt nochmal keine Antworten auf deine Fragen. Aber wenn etwas Sinn macht, dann ist es hier mit dir betrunken in der U-Bahn zu sitzen. Und das macht mehr Sinn als jeder auf der Welt erwarten kann. Du machst für mich Sinn." Noch eine Station.

Sie löst ihre Hand aus der Umklammerung seiner Finger, legt sie auf seinen Bauch und flüstert ihm etwas ins Ohr. Beide lächeln zufrieden. Kein Wort mehr im Waggon, nur das Rattern der Gleise.

Als sie Hand in Hand aussteigen öffne ich mein Bier mit einem Feuerzeug, sitze betrunken in der U-Bahn und frage mich, wo mein Sinn bleibt. Wo ist der Sinn in meinem Leben? Was macht Sinn? Ich steige versunken in alkoholgeschwängerte Gedanken aus der Bahn und schleppe mich in Richtung meiner Wohnung. Sinn. Sinn. Sinn. Was macht Sinn für mich? Im Treppenhaus riecht es nach Abendessen und Rauch. Es ist schwül. Aus irgendeiner Wohnungstür kommt Musik. Menschen reden miteinander. In meiner Wohnung: nichts. Das Surren des Kühlschranks gibt mir einen monotonen Beat, zu dem ich gut denken kann. Wozu morgen aufstehen? Für Alkohol und Sonne, für Smalltalk und Fernsehen? Macht das Sinn? Ich sitze auf meinem Sofa und zünde mir die letzte Zigarette an. Nichts von all dem macht Sinn. Aufstehen wäre sinnlos, es interessiert niemanden. Aber wenn etwas Sinn machen könnte, dann wäre es hier mit dir betrunken auf dem Sofa zu sitzen, über den Sinn zu reden und deine Hand zu halten. Das wäre mehr Sinn, als ich erwarten könnte. Also warte ich.

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