Du bist den ganzen Weg gerannt. Und es
hat die ganze Zeit geregnet. Dicke, runde Tropfen fielen wie trunkene
Hummeln zu Boden und hinterließen seelengroße Krater links und
rechts deiner zitternden Schritte. Saurer Regen rann dir über die
Haut und brannte sich zwischen Augen und Herz tief in das Fleisch
deines Körpers, den du so tapfer immer weiter nach vorne triebst.
Und das Brennen deiner Lungen hielt dich wach, und das Pochen in
deinen Schläfen gab deinen Beinen einen Takt. Einen Takt der Jahrmillionen überdauern könne, dachtest du.
Ein Weg, gepflastert mit Scherben aus
Schweiß und Blut tat sich hinter dir auf und verschwand vor dir
in einer dünnen Linie am Horizont. Es war immer die Krümmung der
Welt und Gezeiten, die dir die Sicht auf dein Ziel vorenthielten und
dich zweifeln ließen, dich zum Umkehren und Aufgeben zwingen
wollten. Doch du bist den ganzen Weg gerannt. Mit nassen Haaren und
Wasser in den Augen, mit Krämpfen in den Waden und einem Geschwür
im Magen, groß wie ein Leben und traurig wie ein Bildnis von van
Gogh. Aller von dir abgeworfener Ballast ließ dich schwinden, im
fahlen Lichtspiel von dunkler Sonne und hellen Blitzen, ließ dich
dünner werden. Mit jedem Ausatmen löste sich ein Teil deiner Selbst
in Staub auf, sodass du das Atmen aufgabst und luftlos nach Hilfe
schriest. Doch keiner hörte zu. Denn niemand war da. Und es hat die
ganze Zeit geregnet. Und du bist den ganzen Weg gerannt.
Als der klebende Schlamm deine Schuhe
verdaute, legtest du sie an den Rand des Weges zum Sterben. Als sich
die Nähte deiner Kleider lösten, übergabst du sie der sauren Luft
und sahst, wie der Wind sie in die Wolken zu sich holte. Nackt
stolpertest du voran – krank, wund, gebrochen – und ließest
nicht ab von deinem Ziel. Einen Traum im Hinterkopf, hast du dich
immer wieder umgeschaut um zu sehen, ob dir nicht doch jemand folgen
würde. Doch hinter dir lag nichts – und vor dir lag noch mehr
davon. Und du bist gelaufen, so schnell der Takt es dir vorgab. Der
Takt der Jahrmillionen, den es zu bezwingen galt. Dessen monotones
Grollen du dir eingeprägt hattest, seit er dich zum ersten Mal aus
dem Schlaf gerissen, aber nicht aufwachen lassen hat. Und stets war
es die Dämmerung, die dir Mut gab. Nie wurde die Nacht so finster,
wie sie war, bevor du anfingst zu Laufen. Und es hat die ganze Zeit
geregnet.
Und dein Blut kochte, und deine Haut
dampfte, und deine Augen waren das einzig Klare im Umkreis von Meilen
und Kilometern, Jahren und Leben als ich dich kommen sah. Nie wusste
ich, dass etwas so Zerbrechlichem so viel Kraft innewohnen könnte,
ohne dass die Hülle zerspringen und sich auflösen und erlöschen
müsste. Du hieltest die Stärke von eintausend Schicksalen in einer
Kugel aus Papier gefangen und auf jeden Riss legtest du einen deiner
dünnen Finger, um nicht zu zerbersten. Kein Finger war mehr frei als
ich dich bei der Hand nehmen wollte. Und doch bist du den ganzen Weg
gerannt.
Du hast mir leise den Takt der
Jahrmillionen zugeflüstert und wurdest dabei dünner und dünner.
'Irgendwann wirst du wieder atmen
können – am Ende, spätestens', sagte ich mehr zu mir als zu dir
und verlor die Worte an den Regen.
Und dann hab ich dich verloren.
Irgendwo auf dem Weg.
Und du bist den ganzen Weg gerannt. Und
es hat die ganze Zeit geregnet. Bis du irgendwann das Ende erreichst
und atmen kannst – versprochen.
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