Samstag, 19. März 2016

text /// Der Norden in mir.

Und wir treten nicht mehr in die Ketten, wir lassen uns rollen. In deinem Fahrradkorb klimpern die Weinflaschen. Du fährst neben mir und die Sonne verschwindet langsam hinter den Plattenbauten. Der Rauch deiner Zigarette zieht in dünnen Fäden in den warmen Frühlingshimmel und alles um dich herum glüht im Flimmern der letzten Augenblicke des Tages. Es ist zum ersten Mal richtig warm. Ich sehe dir von hinten über die Schulter und kann dein Lächeln nur erahnen. Es schmückt dein Gesicht in den lieblichsten Zügen. Du fühlst dich frei mit dem Wind im Gesicht, hast du mir mal erzählt. Und am wohlsten fühltest du dich am steilen Abhang am Nordkap. Zwischen Felsen und glasklarer Luft und dem feuchten Salz auf deiner Haut. Denn der Gedanke an ein Ende, das Ende deines Kontinents, ließ dich glühwürmchenhaft alles um deinen dünnen Körper erleuchten. 

Ab hier kam nichts mehr. Und nach dem Nichts nur noch Eis und blauer Himmel. Ich beneide dich noch heute für diesen Gedanken. In meinem Kopf fehlt die Romantik, sich trotz aller Gegenbehauptungen ein Ende vorstellen zu können auf dieser runden Welt. Es würde dich beruhigen zu wissen, dass irgendwann Schluss ist, sagtest du mit sicherem Blick. Starr und zufrieden wanderten deine Augen über den Horizont, der seinen ausladenden Bauch ins kalte Nordmeer tauchte. Damals dachte ich, ich würde dich nie wieder schöner sehen. Dich nie wieder mehr vermissen können, weil du neben mir standst und doch weit weg warst. Und dann folgten die Tage bis hier hin, und an jedem warst du schöner und ich vermisste dich in jedem Moment.

Könnt ich hier sterben, wollt ich nicht mehr leben. Du sagtest das mehr gelacht als gesprochen und wir beide taten so, als wäre dieser Satz eine alberne Aneinanderreihung von Wörtern ohne Sinn. Ich tat so, weil ich es nicht verstehen wollte. Du, weil du es verstanden hattest. Und am Ende blickten wir durch die Glasfassade des Besucherzentrums in die ruhige See, tranken Tee, hielten uns bei der Hand und schwiegen, weil der Moment es von uns verlangte. Auf eine beruhigende Art schienst du hier angekommen zu sein, geerdet und zu Hause. Dieser Ort, tief im nördlichsten Fels unserer Welt, ummantelte dich wie eine dicke Decke und gab dir so viel Geborgenheit, dass die Luft um dich herum still stand. Und da erst bemerkte ich, dass ich dich verloren hatte, obwohl du noch meine Hand hieltest. Wir tranken unsere Tassen aus. Und gingen.

Wie oft du neben mir gestorben bist, weiß ich nicht mehr. Und wir waren nie wieder am Nordkap. Wir haben uns noch einige Male an die Klippen gedacht und sind zwischen den kargen Felsen auf und ab gegangen. Wir haben Blitze am Horizont beobachtet und die Wolken aufziehen sehen. Und wir haben gewartet. Auf den Moment, an dem sich ein Ende auf unserer runden Erde auftut und aus deiner Geborgenheit eine Ruhe wird, die sich zwischen uns legt und das Atmen schwerer macht. Und wir haben uns nicht aufgegeben, nur verloren. Irgendwo, zwischen den Glühwürmern und Kiefern und dem Abgrund am Fuße der Klippen im Norden.

Und wenn dein Fahrrad zur Ruhe kommt, du die Weinflaschen aus dem Korb nimmst und mir ins Gesicht lächelst, dann strahlt die Sehnsucht aus deinen Augen. Gestorben bist du nie im Norden, sondern in dieser Stadt zwischen Plattenbauten und schwerem Wein. Und den Norden hast du nie wieder gesehen. Seit einiger Zeit schon treten wir nicht mehr in die Ketten, sondern lassen uns Rollen. Den ganzen Weg bergab. Und wenn irgendwann die Sonne hinter der letzten Häuserschlucht ins Nordmeer taucht, wirst du sterben. Diese Stadt wird dich nicht vermissen. Und mir bleiben die Orte, an denen die Luft noch von dir flimmert.



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