Freitag, 8. April 2016

text /// Dreihundertsechzehn.


Unten rumpelt eine Straßenbahn über den nassen Asphalt. Wir sitzen, eingewickelt in Decken, rauchend und stumm auf dem Balkon und sehen den Narzissen zu, wie sie im Wind abknicken und mit großen Augen in die Häuserschlucht schauen – kurz vor dem Fall, aber immer noch mit einer dünnen, starken Wurzel im Blumenkasten vergrabenAuf dem Lavendel des Nachbarbalkons waren gestern mehr Bienen als auf meinem, das ärgert mich. Es liegt an den traurigen Narzissen, die müssen wieder weg.

Du trinkst deinen Tee und blinzelst in den Himmel, der so grau und schmierig über der Stadt hängt, dass man den April verfluchen möchte. Immerhin hat es aufgehört zu regnen. Deine Hände gucken wie Handpuppen aus der Decke und umarmen die warme Tasse. Du wirkst ganz und gar zufrieden, vielleicht bist du es sogar. Vielleicht warst du schon lange nicht mehr so zufrieden, wie in diesem Moment auf dem kalten Balkon in dieser ewig rennenden Stadt. Nur deine Augen suchen einen Halt in den Wolken über den Dächern der Nachbarschaft. Und du suchst ihn dort, weil du hier unten keinen Halt erwartet hattest. Noch nicht. Vielleicht später einmal, irgendwann. Wenn es sich ergibt.
Und die Luft zwischen uns wird enger, wenn wir uns ansehen und schweigen, mit neugierigen Augen mustern und den Faden der Worte verlieren, die sich zwischen unseren Ohren zusammenzusetzen versuchten. Ein flüchtiges Lächeln flimmert im Wind und fühlt sich an wie Haut auf Haut. Als würden Wangen aneinander reiben und sich Nackenhaare aufstellen. Du atmest tief durch, saugst die ganze dich umgebende Kälte ein, spürst die kühle Luft in deinen Lungen und schließt die Augen. Du leuchtest neben all dem Grau. Ich beginne zu zählen. 
Und nach dreihundertsechszehn Sekunden berührt meine Hand deine wie zufällig geplant und um uns herum ist Frühling. Für einen kurzen, klaren Moment, der uns beide wundern lässt. Wundern darüber, wie erschreckend zufrieden es uns macht, den anderen zu berühren
Die Narzissen müssen trotzdem weg – vielleicht hilfst du mir dabei. Irgendwann. Im Frühling.   

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