Dienstag, 5. Februar 2013

text /// Rücklichter.


Die Erfahrung macht müde. Egal ob im Bett oder im Rausch: Schlaf findet er ohnehin nicht.
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Wie ein grauer Schatten zieht die Leitplanke an ihm vorbei. Aus der Dunkelheit rotzt ihm die Nacht fette, satte Regentropfen auf die Frontscheibe. Der Motor heult über die Autobahn. Bei zweihundertzwanzig ist Schluss. Rote Rücklichter ziehen an ihm vorbei wie Blitze im Nebel eines Sommergewitters. Seit Tagen unruhiger Schlaf, unterwegs auf der Straße ohne Ziel. In der Tasche noch Geld für einen halben Tank, zwei Softpacks Zigaretten und eine billige Unterkunft – vielleicht tauscht er das schäbige Autobahn-Bett auch gegen eine Flasche Whisky von der Tankstelle. Die Erfahrung macht müde. Egal ob im Bett oder im Rausch: Schlaf findet er ohnehin nicht. An den Osten erinnert er sich nur noch schemenhaft – und an die Gesichter der Weinenden.
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„Bleib doch hier. Wo willst du überhaupt hin?“
„Ich muss hier raus. Weg – ich muss hier weg.“
„Wohin fährst du?“

Im Norden sah er endlose Alleen und Dünen. Er saß einen Nachmittag lang am Meer und versenkte seine Füße im kalten Sand. Drachen stiegen über seinem Kopf in die Lüfte auf und trotzten dem Wind. Aus dem Hafen legten Fähren ab, noch weiter Richtung Norden fahrend. Richtung Kälte und Schnee, Richtung Wildnis und Nordkap. Sie luden ihn ein das Land zu verlassen und seine Gedanken im kalten Wasser des Atlantiks sterben zu lassen. Mit dem Kopf voran, hinunter in die Fluten bis das Meerwasser seine Adern bis zum Gefrierpunkt herunter gekühlt hätte. Eins mit dem Wasser würde er auf den letzten Kilometern des Nordatlantikstroms nach Norden gleiten. Entlang der Fjorde Norwegens an Felsen vorbeiziehen und irgendwann die unendliche Weite des eisigen Nordmeeres erreichen. Er würde mit den Fischen schwimmen, als einer von ihnen die Tage verbringen und auf die Fischersflotte warten, die ihn irgendwann aus diesem kalten Paradies erlösen würde. Doch so lange wäre er frei. Und dann im Netz, nach Luft stöhnend, wäre er frei für immer.
Als er aufwachte spürte er die Ketten an seinen Handgelenken und das Salz auf seiner Haut. Der Norden war ein Traum. Nichts weiter. Und die Träumenden konnten ihn nicht aufhalten.

„Und ich kann dich nicht umstimmen?"
„Dazu ist es schon lange zu spät.“
„Wohin willst du jetzt?“

Im Westen verlor er sich in den Städten und Lichtern der Laternen. Er trank mit Pennern und zahnlosen Bettlern an Straßenbahnhaltestellen. Er schlief nahe dem Dom und verrauchte seine Zeit an den Bars der Hotels, die er nicht bezahlen konnte. Die zahllosen Sonnenaufgänge über den Dächern der Stadt ließen den Schmerz langsam verschwimmen, den er beim Verlassen der Hansestadt in jeder Faser seines müden Körpers spürte. Das Loslassen war zu einem Loswerden geworden. Ein Leben getrieben vom Willen etwas loszuwerden – für ein paar Tage vogelfrei und nicht mehr als ein kühler Windzug in den Straßen der Stadt. Sein Methadon trank er aus der Flasche, sein Koffein war ein unbändiger Hunger auf die Nacht. Verzerrte Bilder von rauchenden Fratzen und wabbernden Lichtern sind alles was er sah. Klar und deutlich waren nur die wenigen Minuten zwischen Minibar und Kloschüssel. In denen fühlte er sich ausgeblutet – also füllte er seine Venen mit frischem Feuer. Und wenn er am Ufer des Rheins seine Augen schloss und die Beine über die Mauer baumeln ließ, dann entkam er dieser Nacht. Er folgte fliegend dem Flusslauf bis in die Wälder und spielte Verstecken mit den Mücken. Er badete im Morgentau und unterhielt sich mit der Natur. Einer dicken Frau in der Eckkneipe.

„Und wo kommst du her?“
„Ich weiß es nicht mehr.“
„Wohin gehst du jetzt?“

Im Süden wurde er zum ersten Mal eingeholt. Nach zwei Tagen an der Raststätte konnten ihn die Flaschen nicht mehr schützen. Der Startbildschirm seines Mobiltelefons betäubte ihn. Fassungslos versank er im Rücksitz und ertrank in der Leere seines Kopfes. Ohnmächtig und unfähig zu klaren Gedanken zu kommen sah er die Sonne aufgehen. Seine toten Blicke bohrten sich durch das Innenleben seines Autos und ekelten ihn an. Behäbig wälzte er sich durch die Polstersitze und verschwand in den Rillen, grub sich durch die Karosserie und lebte zwischen Kronkorken und Staub, Stahl und Blut. Regungslos kauerte er am Ende seiner Welt. Er starrte auf das Display seines Telefons und ignorierte das ständige Klingeln. Als er aus der vernebelten Umklammerung erwachte, war das Licht vor ihm erloschen, der Ton verstummt. Sein Körper brannte und zitterte, während er seine Tränen in den Sitz presste – unfähig seine Stimme zu halten. An diesem Ort hielt ihn nichts mehr.
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Wie ein grauer Schatten zieht die Leitplanke an ihm vorbei. Der Regen nimmt ihm die Sicht. Während unter ihm die Straße in endlosen Fäden vorbeizieht wird das monotone Rattern der Räder zu einer Sinfonie. Er hört sie.

„Wohin fahren wir?“
„Wohin du willst.“
„Dann fahr' uns nach Hause.“
„Wo ist das jetzt?“
„Egal wo. Wir sind das.“

Als er die Augen schließt sieht er sie neben sich auf dem Beifahrersitz schlafen, den Kopf zu ihm gewandt, leise atmend. Das blaue Licht der Armaturen bricht sich auf ihrer Haut und spiegelt sich in ihrem Haar, das sanft auf ihren Schultern ruht. Ihre Hand liegt warm und weich auf seinem Oberschenkel, in ihrem Schoß die Landkarten mit dem Weg nach Hause. Er öffnet die Augen und blickt in die Dunkelheit. Rote Rücklichter ziehen an ihm vorbei wie Blitze im Nebel eines Sommergewitters. Der Regen wird stärker und der Wind flüstert.

„Wohin willst du?“
"Nach Hause.“
„Und wo soll das sein?“
„Ich weiß es nicht mehr.“

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