„Siehst du die ganzen
Lichter da hinten?“ Ihr Blick umklammerte die blinkenden Punkte im
dunkelgrau der Nacht. Von links nach rechts schob sich ihr Blick
durch die Lüfte, machte kehrt und suchte erneut die Ferne nach
Lampen und Leuchten ab. Es war ihr, der Wind umhüllte kalt ihre
Ohren, als würden alle Lichter dieser Welt um Hilfe rufen. Egal ob
sie stur und starr an einem Ort verweilten oder ihr Heil in der
langsamen aber steten Flucht nach vorn und zurück suchten – es
waren für sie die stummen Schreie der zähen Zeit. Nichts ahnend von
ihrem Übel, ihrem Gefängnis, dienten alle Lampen und Lichter und
alles Leuchtende auf der Welt stetig und emsig dem Verderben der
Anderen, dachte sie sich und ihr Kopf surrte vom vielen Denken.
Vielleicht wäre, würde sich ihr Leben in einem französischen Film abspielen, ihr böser Stiefvater ein arglistiger Lampenladenbesitzer. Ohne Liebe, ohne Vernunft oder Reue. Er würde ihre Mutter nur wegen des viel zu hohen Erbes bezirzt haben und hatte insgeheim schon vor deren Tod das Geld verplant, um auf dem landadligen Familienbesitz eine Fabrik für noch mehr Lampen zu errichten. Um sie zu knechten. Und noch mehr Lampen zu erfinden. Um sie ins Dunkel zu treiben und ewig brennen zu lassen. In diesem französischen Film würde sie jedoch bald schon mit den inhaftierten und geschundenen Lampen sprechen, oder wenigstens mit dem Nachbarsjungen eine Befreiungsmission für diese starten. Zusammen würde ein Komplott ausgeheckt und schließlich müsste der böse Stiefvater das Gut verlassen – nachdem einige Kisten Feuerwerkskörper, die eigentlich für die feierliche Übergabe des Erbnachlasses gedacht waren, über dem Landhaus die Nacht erhellten.
Sie schmunzelte und wischte sich eine Träne aus dem Auge, die der Wind ihr entrissen hatte. So war es nicht. Das war nicht der Grund für ihren Missmut gegenüber allem was des Nachts den Himmel erhellt. Es war auch nicht der Grund dafür, dass Lampen ihre Seele trübten. Die Vorstellung, ein französisches Mädchen mit Landbesitz zu sein, gefiel ihr hingegen. Sie konnte geradezu die frischen Erdbeeren riechen, die hinter dem hölzernen Schuppen am Hang wachsen würden. Dicke, rote Beeren mit der saftigsten Süße der Welt. Sie strich sich mit der Zunge über die Lippen und für einen kurzen Augenblick schmeckte sie das Rot der Erdbeeren auf der vordersten Stelle ihrer Zungenspitze. Gesüßt von diesem Moment schloss sie die Augen und zog die Schultern dicht an den Hals, atmete ein, atmete aus, und stellte ihre Frage erneut: „Siehst du die ganzen Lichter da hinten?“
Vielleicht wäre, würde sich ihr Leben in einem französischen Film abspielen, ihr böser Stiefvater ein arglistiger Lampenladenbesitzer. Ohne Liebe, ohne Vernunft oder Reue. Er würde ihre Mutter nur wegen des viel zu hohen Erbes bezirzt haben und hatte insgeheim schon vor deren Tod das Geld verplant, um auf dem landadligen Familienbesitz eine Fabrik für noch mehr Lampen zu errichten. Um sie zu knechten. Und noch mehr Lampen zu erfinden. Um sie ins Dunkel zu treiben und ewig brennen zu lassen. In diesem französischen Film würde sie jedoch bald schon mit den inhaftierten und geschundenen Lampen sprechen, oder wenigstens mit dem Nachbarsjungen eine Befreiungsmission für diese starten. Zusammen würde ein Komplott ausgeheckt und schließlich müsste der böse Stiefvater das Gut verlassen – nachdem einige Kisten Feuerwerkskörper, die eigentlich für die feierliche Übergabe des Erbnachlasses gedacht waren, über dem Landhaus die Nacht erhellten.
Sie schmunzelte und wischte sich eine Träne aus dem Auge, die der Wind ihr entrissen hatte. So war es nicht. Das war nicht der Grund für ihren Missmut gegenüber allem was des Nachts den Himmel erhellt. Es war auch nicht der Grund dafür, dass Lampen ihre Seele trübten. Die Vorstellung, ein französisches Mädchen mit Landbesitz zu sein, gefiel ihr hingegen. Sie konnte geradezu die frischen Erdbeeren riechen, die hinter dem hölzernen Schuppen am Hang wachsen würden. Dicke, rote Beeren mit der saftigsten Süße der Welt. Sie strich sich mit der Zunge über die Lippen und für einen kurzen Augenblick schmeckte sie das Rot der Erdbeeren auf der vordersten Stelle ihrer Zungenspitze. Gesüßt von diesem Moment schloss sie die Augen und zog die Schultern dicht an den Hals, atmete ein, atmete aus, und stellte ihre Frage erneut: „Siehst du die ganzen Lichter da hinten?“
Er nickte. „Ja, tu
ich“, sagte er ruhig, fast flüsternd in den kühlen Abend hinein.
Er hatte schon beim ersten Mal geantwortet, doch das hatte sie
womöglich nicht gehört. Gewundert hatte ihn das nicht. Der
Verwunderung über sie war schon lange Gewohnheit und Lieblichkeit
gewichen. Still, eher regungslos, saß er neben ihr auf dem kalten
Stein und blickte seinerseits in die sich verdunkelnde Ferne. Seine
Hände umklammerten eine Schachtel Zigaretten in seinem Schoß. Ein
stummer, stiller Beobachter, sollte es denn einen geben, hätten die
beiden im Dunkel durchaus für Steine halten können – alte Seelen,
ewig nebeneinander gewachsen, in stummer Hingabe und Distanz. Es
vergingen Stunden und die Nacht legte sich über beider Köpfe. Ein
Mond wimmerte zart hinter den Wolken, doch die Luft war klar und
frisch und bissig.
„Was glaubst du ist
hinter den Lichtern? Also hinter den letzten Lichtern die wir
sehen?“, fragte sie und zerstach die Luft mit einem ihrer zarten
Finger. Er zeigte über die Wohnblöcke im Osten schnurstracks zum
Horizont, der nun schon fast schwarz auf schwarz schien, und führte
seinen geschulten Blick zum letzten, allerletzten Lichtpunkt in
dieser Richtung. Den Osten hatte sie schon immer mehr geliebt als den
Norden oder Süden. Dort musste man entweder bitter frieren oder vor
Hitze die Welt meiden. Und man müsste erst viele Kilometer laufen,
bevor es im Süden wieder kälter werden würde. So hatte sie es
gelernt. Nein, der Norden oder Süden waren nichts für sie. Über
den Westen hatte sie bisher noch nicht viel nachgedacht. Doch im
Osten hörte sie die Lichter und Lampen am lautesten nach Hilfe rufen
wenn sie hier oben saß und über die Stadt wachte. Der Osten hatte
einen Platz zwischen ihren Lungen gefunden – irgendwo tief drin in
ihrem Ich.
„Polen, vorher ein
bisschen Brandenburg. Und dahinter dann Russland oder die Ukraine
schätz' ich.“ In Gedanken lief er mit der Fingerspitze am Globus
im Haus seiner Eltern von hier aus mit funfhundert Kilometern in der
Sekunde nach Osten. Polen, Ukraine, Russland, Kasachstan, Schall,
Rauch und alles nur Namen von Grenzen auf einem Ball mit bunten
Flächen. Meere wollte er durchpflügen und Berge unterwandern und in
Wüsten pissen und das alles in Minuten, nicht in Jahren. Seine
Tasche stand gepackt und der Mantel hing an der Eingangstür. Er
wollte Malariamücken mit der Hand zerdrücken, von Klippen springen
und Regenzeiten erleben. Er wollte Leben aus den Klimazonen saugen
als wäre es der Saft von süßen Erdbeeren im Hochsommer. Einzig die
Schleife in seinen Schuhen fehlte um die Abenteuer zu beginnen. Und
so erdrückte ihn das Fernweh und ließ ihn dort zurück, wo er sie
fand, wo auch sie lag. Zertrümmert auf dem Bordstein der Stadt. Er
atmete ruhig während sein Blick über die Bordsteine der Straßen
wanderte und seine Hand zitterte nach zwei Zigaretten.
„Wie heißen die Seen
und Meere dort?“ Sie ließ ihn beide Zigaretten gleichzeitig
anzünden und nahm sich behutsam eine. Warmer Rauch füllte ihre
Lungen. Der Geschmack erinnerte sie an die Küsse der Stadt und an
die ihres Vaters. Wenn Lichter blitzten und schrien. Arme Geschöpfe.
Diese Lichter hatten Angst und die hatte sie wahrscheinlich verlernt,
so glaubte sie zumindest. Sie hatte schon länger keine Angst mehr
gehabt. Im Dunkel fühlte sie sich wohl. Ohne Lampen, ohne die
Lichter der Stadt. Diese Stadt konnte ihr keine Angst mehr einjagen.
Es war ihre Stadt – und sie war bereit sich für diese Stadt zu
opfern. Nie hatte sie eine andere Stadt gesehen. Einzimmerwohnung,
Einbauküche und Balkon für ein paar Stunden ihres Lebens. Und auf
dem Bordstein der Stadt wurde sie gefunden und hier hergebracht.
Viele Male schon und immer flüchtete sie den Weg zurück, den sie
geflüchtet war.
„Das Schwarze Meer
kommt als erstes. Und dann das Kaspische Meer.“ Stille breitete
sich wie eine Blase um sie herum aus. Nur entfernt hörten sie von
tief unten die letzten Geräusche der Stadt. Er blickte sie an, wie
sie in die Ferne blickte. Die Augen starr auf den Horizont im Osten
gerichtet. Abwägend sah sie aus, abwägend was als nächstes zu tun
sei. Er schnipste den Filter seiner Zigarette in den Nachthimmel und
sah zu, wie die Glut am Geäst der Linden unter ihm zerbarst und in
einem feinen Regen zu Boden ging. Überall Lichter und so wenig von
ihr, dachte er sich, zündete zwei neue Zigaretten an und starrte
über die Dächer im Osten. Qualm stieg auf und verlor sich, Lichter
erloschen und wurden gezündet, auf der Straße gab es ein kurzes
Gebrüll. Und vier Augen verloren sich.
„Kaspisches Meer“,
wiederholte sie nach einigen Stunden und strich sich mit beiden
Handflächen über das Gesicht. „Klingt gut.“ Sie legte sich
rücklings auf den Stein und ließ die Beine baumeln. Das Klopfen
ihrer Hacken an der Fassade wurde von Mauer zu Mauer durch die Straße
getragen. „Gibt es dort Lichter und Lampen?“
Er schmunzelte. Der
klopfende Widerhall der Hausfassaden erinnerte ihn an ein Lied, das er vor Jahren mochte. Bevor er sie kennengelernt hatte. Bevor er sich
verloren hatte. „Am Kaspischen Meer? Ich denke schon. Aber viel
weniger als hier. Und man findet sicher auch einen Platz, an dem es
keine Lichter gibt.“ Prüfend runzelte er die Stirn, war dann
jedoch zufrieden mit seinen Worten und legte sich ebenfalls auf den
Rücken. Langsam legte sich der Tau auf ihre Kleidung und die kühle
Stunde vor der Dämmerung kündigte sich an. Zu ihren Füßen zogen
Taxen ihre bahnen. Die Lautsprecheransagen des Bahnhofs hallten über
den Asphalt und die Fensterfronten hinauf. Die Stadt holte noch
einmal Luft, bevor sie sich in einen neuen Tag ergießen würde.
„Dann will ich dahin
mit dir.“ Sie flüsterte die Worte und blieb liegen. Sie lag
regungslos auf dem feuchten Stein und blickte wonnig in den Himmel,
als wäre er zartschmelzender Wackelpudding und zum Greifen nah.
„Ich komme mit. Zum
Kaspischen Meer.“, sagte er und zählte seine Zigaretten. Sieben.
Sie würden noch eine Schachtel kaufen müssen um bis ans Ende teilen
zu können.
„Dann klauen wir uns
ein Fahrrad und fahren los. Zum Kaspischen Meer.“ Sie stellte sich
auf, trat an den Abgrund und schenkte diesem ein Lächeln. Vorsichtig
strich sie ihr erdbeergemustertes Kleid glatt und reichte ihm
strahlend ihre Hand. „Zum Kaspischen Meer“, flüsterte sie,
drehte sich um und machte den ersten Schritt.
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