Irgendwann hast du mal
gedacht, du könntest über Wasser gehen. Immer weiter bis zu den
Sandbänken ein paar hundert Meter vor der Küste. Hinter dir
verschwanden erst die Muscheln im Schaum der Wellenlinien, dann
verschwanden die Trümmer der Sandburgen im verschwommenen silberweiß
des abnehmenden Mondes. Kinderlachen verebbte und erstarb
schließlich, als die bunten Schirme am Strand von Böe um Böe
niedergerungen wurden. Der Geruch von Sonnenmilch und Zigaretten
konnte dir nicht mehr folgen, als der Wind stärker flüsterte und
dich an der Hand weiter über die glitzernde Oberfläche führte.
Jeder Blick zurück ließ
die Dünen schrumpfen. Der starre, winddurchflossene Strandhafer
erinnerte dich an Haare, die sich bei Gänsehaut auf deinen Armen
aufstellten und deine vom Salz ganz ausgetrocknete Haut fast
aufzubrechen vermochten. Nur gefroren hast du nie. Und deswegen hast
du dich umgedreht und bist weiter gelaufen. Unter deinen Füßen
glaubtest du die Wellen zu spüren; tosend und brausend meintest du
sie tief unter dir durch das unendliche Meer rollen zu hören. Dass
sich fern im Osten der Regen über der Welt zusammenbraute und am
Horizont die Blitze zuckten, sahst du nicht. Dein Sturm lag schon
immer tief vergraben, im Meer versenkt und gehütet von Abermillionen
Jahren zwischen Plankton und Schlamm. Keinen Gedanken hattest du je
an den grauen Himmel verschwendet, keinen an die Sonne und keinen an
den Mond, der dir auf deinem Weg in dieser Nacht doch so zuverlässig
den Weg leuchtete. Als du Sand unter deinen Füßen spürtest, waren
die Robben längst geflohen und in alle Winde ausgeschwärmt. Fast zu
spät hatten sie dein Kommen bemerkt und sich verwirrt und überhastet
in die Fluten stürzen wollen. Und du hast sie alle betrogen – du
hast sie alle betrogen. Einige konntest du noch sehen, die
Schwerfälligen, die Missgestalteten. Die Schwachen und die Kranken,
denen du beiläufig einen Blick über das Meer hinterher schicktest.
Einen Blick voller Desinteresse und Gleichgültigkeit, kalt wie die
Sohlen deiner Füße, hart wie das Eis an deiner Haut.
Und trotzdem hast du nie
gefroren. Donner umgab dich. Dumpf und weich. Schlang sich um dich
wie Seetang und umspielte deinen kleiner werdenden Körper mit
schmerzendem Willen. Und als Himmel und Meer für einen kurzen Moment
ihre Seiten tauschten überkam dich zum ersten Mal seit dem du die
Küste verlassen hattest ein Gefühl. Du hattest alles zurückgelassen
und den Weg vor dir ohne Mühe verbrannt. Und deswegen hast du nie
gefroren. Irgendwann hast du mal gedacht, du könntest über Wasser
gehen. Doch unter deinen Füßen brannte sich nur Eis in deine
vernarbte Haut. Und du hast dich umgeschaut und spürtest die Welt um
dich herum immer größer werden. Das Eis unter dir knackte und
zischte und versank am Horizont schon wieder in den warmen Fluten –
doch bis dahin trugen dich deine Muskeln nicht mehr. Kälte stieg in
dir auf und dein Zittern ließ den Strand zornig werden. Als deine
Knie nachgaben und du zwischen den Jahren und Welten und Gezeiten auf
den Boden zusammengesunken warst, es keine Hoffnung mehr auf ein
Zurück und Rettung gab, da streifte dein Blick den Strand, der wie
ein fahler, toter Strich hinter dir am Himmel gehangen hatten. Alle
Leuchtfeuer die wir entfacht hatten entzogen sich deinen glasigen
Augen, alle Rufe erstarben in der tosenden See, die auf dich zu kroch
– unaufhaltsam am Eis unter deinen Füßen zerrte. Die Welt um dich
herum war reduziert auf ein Wackeln und Kreischen, der Sturm über
dir war hungrig und unnachgiebig.
Und als sich die Welt
deinen kleinen eisigen Kosmos in einem Zischen einverleibte und die
Uhren dennoch weiter schlugen, wussten wir wer du warst. Du warst die
Panik. Der Witz und die Depression und das Leid. Das Fluchen, der
Schmerz. Muskelkrämpfe und Orgasmen. Die Trauer und das Weinen und
die Liebe. Die Angst und der Tod. Unser Lachen und der Magenschmerz
der Völlerei. Die Müdigkeit und die Faulheit. Das Leben und das
Trinken und das Tanzen und der Kopfschmerz. Und wir hatten dich
einfach gehen lassen, weg vom Strand, hinaus auf die Eisfläche über
einer unruhigen See. Und wir hatten dir nur hinterher gesehen. Du
wolltest zu den Sandbänken spazieren. Und wir hatten dich alle
betrogen.
Und irgendwann hast du
mal gelacht, du könntest über Wasser gehen. An einem längst
vergangenen Tag im Sonnenschein, am glitzernden Blau eines
Badebeckens mit einem Zauber im Gesicht, der uns zusammenhielt. Die
nassen Haare nach deinem Versuch belehrten dich eines Besseren.
Da warst du unsere
Menschlichkeit.
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